Klar, keiner freut sich, morgens um Sieben von mit einem Messer bedroht zu werden. Natürlich ist sowas zu jeder Uhrzeit blöd, allerdings um sieben ganz besonders, denn morgens ist in Georgien noch nicht allzu viel los. So konnte ich, als das kleine Unglück geschah, niemanden zu Hilfe holen. Glücklicherweise schaffte ich es, in eine McDonalds-Filiale nebenan zu fliehen. Danke Macces. Schön das es dich gibt.

Die Rettung in der Not: McDonalds.

 

Der Tag, an dem das passiert ist, sollte später noch ein ganz besonderer Tag werden: Es war der Tag des Aufbruchs zu meinem Einsatzplatz. Für mich ging es nach Lagodekhi, einer kleinen Stadt am fast letzten Zipfelchen Georgiens. Für Katja ging es in die entgegengesetzte Richtung, nach Ozurgeti. Johanna machte sich ebenfalls nach Westgeorgien, nach Kutaissi auf. Hanna, Lotte, Leonie und Benedikt bleiben in Tbilisi und halten dort die Stellung. Ihre Blogs sind unten verlinkt.

Lagodekhi

Das da Links, das ist das Haus meiner Gastfamilie. Dahinter übrigens der Kaukasus.

In Lagodekhi wurde ich herzlich von einer fünfköpfigen Familie aufgenommen, die ich jetzt schon glücklich meine Gastfamilie nennen kann. Großmutter »Bebo« wacht über alles, ganz besonders aber über die Küche. Tamuna, meine Gastmutter ist gleichzeitig meine Chefin in der NGO. Ihr Mann, Giorgi ist hoher Verwaltungsbeamter im Rathaus. Mein Gastbruder Tazo ist genauso alt wie ich und bereitet sich auf sein Studium vor. Bei mehreren Gläsern Wein haben wir uns bereits die Bruderschaft geschworen. Des öfteren ziehen wir gemeinsam des Abends durch die Straßen. Deme ist Tazos Bruder und der Jüngste im Haus. Auch wenn nur Tazo Englisch spricht, könnte der Kontakt kaum herzlicher sein. Dafür bin ich dankbar. Seit kurzem bin ich sogar ein Kargi Bitschi. Als Kargi Bitschi, was »guter Junge« bedeutet, sage ich dann natürlich »Madloba« — das heißt danke.

Doch nicht Vardisubani?

Auf dem Kaukasus liegt Schnee. Langsam wird es kalt.

Ursprünglich hieß es, ich solle in dem Dorf Vardisubani leben und arbeiten, doch meine Mentorin hielt es für besser, mich in einer etwas größeren Stadt einzuquartieren. Nach den ersten zwei Wochen bin ich wirklich dankbar für diese Entscheidung. Der Unterschied zwischen Dorf und Stadt ist definitiv bemerkbar. Der allgemeine Lebensstandard ist in Lagodekhi weitaus höher. Einerseits bleibt mir so der »Kulturschock« weitestgehend erspart, dafür mindern sich aber andererseits die interessanten Herausforderungen des wirklich ganz, ganz anderen Alltags auf dem Dorf.

Aber auch schon in Lagodekhi ist der Alltag anders als in Deutschland, und der Vorteil gegenüber dem Dorf überwiegt, hier weitaus mehr Möglichkeiten zu haben. Das Zentrum ist von mir Zuhause aus in zwei Minuten erreichbar und grade mal zehn Minuten dauert es bis zum Nationalpark. Hier passiert doch mehr, als man von einer Stadt mit — genau weiß das keiner — ca. sechs bis zwölftausend Einwohnern erwartet. Es gibt Restaurants und ein Café, neben dem bald ein neuer Club aufgebaut werden soll. Die Verantwortlichen gehören zu der aufstrebenden, westwärts gerichteten Jugend, die überall (aber besonders in Tbilisi) aktiv ist. Einige davon durfte ich bereits kennenlernen. Über meine Hilfe beim Aufbauen des Clubs und bei weiteren Projekten freuen sie und ich mich.

Die erste Dienstbesprechung

Ein Gemeindezentrum.

Am ersten Tag, nachdem ich mein Zimmer vorläufig eingerichtet hatte, ging es direkt weiter ins Büro. Das Büro gehört der kleinen NGO »საგა« (SAGA, Sakartvelos Samokalako Ganvitaribis Asotsiatsia). Das heißt so viel wie: »Organisation zur Zivilentwicklung Georgiens«. Saga lässt sich als eine Art Tochter- oder Partnerorganisation von CSRDG beschreiben. Aus diesem Grund begleitete mich meine Ansprechpartnerin von CSRDG, Nino, und stellte mich den Anwesenden vor: Das waren meine Chefin, die wie bereits erwähnt auch meine Gastmutter ist, eine direkte Kollegin und fünf weitere Koordinatorinnen aus den umliegenden Gemeindezentren. Diese stellten sich ebenfalls vor und wir tauschten gegenseitige Erwartungen aus. In der Runde sprachen nur zwei Personen Englisch — Nino und ich — weshalb sich das ganze als etwas schwierig herausstellte. Gemeinsam stellten wir den Plan für die ersten Wochen auf. Leider auf Georgisch. Die Koordinatorinnen werden meine direkten Ansprechpartner sein, wenn ich in den Gemeindezentren Angebote für Jugendliche durchführe.

Während der ersten Wochen heißt es erstmal nur mitlaufen. Jeden Tag fuhr Nodari einige Kolleginnen, meine Chefin und mich jeweils in ein anderes Dorf. Nodari ist der Fahrer von SAGA und die einzige männliche Verstärkung im Büro.

Im jeweiligen Dorf angekommen, erwartete uns entweder eine Präsentation, eine Eröffnungsfeier oder beides in einem. Einige Dinge sind mir besonders in Erinnerung geblieben. In einem Dorf (auf der Karte nicht zu finden, und den Namen habe ich vergessen) beispielsweise, hat eine Bürgerinitiative gebrauchte Bücher gekauft und damit eine Bibliothek eingerichtet. Unser Wohnzimmer in Minden ist größer und enthält wahrscheinlich auch mehr Bücher, aber gerade das ist faszinierend. Seitens des Staates gibt es eben keine Unterstützung und die Bevölkerung muss sich selbst helfen. Das funktioniert gut, der Rückhalt der Bevölkerung ist groß und die Resonanz gut. Anderorts hatte eine Frau alleine, anfangs ohne die geringste Ahnung wie es ging, eine Organisation gegründet um eine Art Volkshochschule aufzubauen. Jetzt, zwanzig Jahre nach der Gründung, belegt ebendiese Schule ein ganzes Unternehmensgebäude und hilft so Jugendlichen, insbesondere aber Frauen, eine berufliche Laufbahn einschlagen zu können.

Anderorts werden Jugendliche begleitet, ein Fitnesszentrum einzurichten. Kombiniert mit Aufklärungsarbeit über gesundheitliche Fragen besteht dort ein attraktiver Anlaufpunkt für die Jugendlichen. Während der Präsentation warteten ebendiese Jugendlichen ungeduldig darauf, endlich an die Geräte zu dürfen.

Das sind nur einige Eindrücke aus den vielen Besuchen. So verschieden sie auch waren, eine Sache war bei allen gleich: Die auf die Präsentation folgende Supra.

»Gaumardschos!«

Essen und Trinken gehört zur georgischen Kultur wie Maria zu Josef und anders herum. Bei der »Supra« verbindet sich beides zu einem Ritual, das weit über die weltlichen Umstände hinaussteigt. Das Essen und der Wein tragen zu einer Art Apotheose bei. Jede »Supra« läuft anders ab, und zu Anfang bleibt es immer eine Überraschung wie sie enden wird. Ein paar Allgemeinheiten lassen sich trotzdem festmachen. Man könnte den Begriff »Supra« mit Gelage übersetzen, doch so richtig gerecht wird dieser Begriff der Sache nicht.

Im Laufe der Supra werden die Teilnehmer immer voller, und die Gläser nie leer. Gleiches gilt für die Speisen. In Georgien ist es nicht üblich, die Gerichte vollständig aufzuessen. Falls doch mal alles verschwindet, kann es sogar vorkommen, dass im Restaurant etwas nachbestellt wird, damit es so aussieht, als hätte man nicht alles gegessen. Das passiert allerdings selten, denn meistens wird schon anfangs so viel bestellt, dass sowieso etwas übrig bleibt. Wichtig dabei ist, dass bei Supras — sowohl im Restaurant als auch zuhause — nicht jeder sein eigenes Essen hat, sondern sich alle von den unzähligen Speisen in der Mitte des Tisches bedienen. Der entwicklungspolitische Freiwilligendienst ist ein Lerndienst und über den eigenen Tellerrand hinauszuschauen, lernt man hier ganz gut.

Jede Supra wird von einem »Tamada«, dem Tischmeister geleitet. Die Autorität des Tamada variiert von Supra zu Supra. Manche nehmen eine einnehmende Rolle ein, manche eher eine kleinere. Meistens übernimmt der Hausherr und Gastgeber diese Aufgabe, festgelegt ist dies aber nicht. Ein geübter Tamada erkennt, wenn die Zeit zum Anstoßen reif ist. Etwa alle fünf Minuten beginnt er, einen Trinkspruch zu sagen. Der Erste geht auf Gott. Der Zweite meistens auf Georgien.

Homemade Chinkali 2.0

Dann auf die Vorfahren. Auf die Geschwister. Auf die Frauen. Auf das Essen. Einfach auf Alles. Nach jeder Rede folgt ein »Gaumardschos!«, was so viel wie »Prost!« heißt. Anschließend wird getrunken. Der Profi leert sein Glas in einem Zug, wer es nicht tut, braucht sich nicht schämen. Jeder trinkt soviel er kann. Nachdem diese Prozedur vollzogen ist, wird jedes Glas wieder aufgefüllt, unabhängig davon wie voll (oder leer) es vorher war. Wichtige Regel: Bis zum nächsten »Gaumardschos!« darf aus diesem Glas nicht mehr getrunken werden.

 

Bei der letzten Supra, nach gefühlt zweiundfünfzig »Gaumardschos!« — es war ca. 21 Uhr —  ermahnten mein Gastbruder und ich uns jedes Mal nur noch mit »zota«, »zota!«. Das heißt so viel wie »ein wenig« und naja, nach weiteren zwanzig »Gaumardschos!« war das auch wirklich nötig.

An Neujahr, wenn in Georgien Weihnachten gefeiert wird, kommen alle Verwandten zusammen und eine Riesen-Supra ist angesagt. Giorgi, mein Gastvater, hat mich eingeladen, an diesem Tag das erste Mal die Rolle des Tamada zu übernehmen. Was für eine Ehre! Und wahrscheinlich auch die beste Motivation, bis dahin ausreichend Georgisch zu lernen.

Gaumardschos!