21. Januar 2017:
Motorenlärm. Kinderrufe. Während ich diese Zeilen zurechtlege, mischen sich zu den Gitarrenklängen Pink Floyds aus meinen Kopfhörern die Alltagsgeräusche aus der Marschrutka. Musik ist nicht mein Leben, aber das Leben ist Musik. Gerade an Tagen wie heute.
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Es ist Montag, siebzehn Uhr siebenundzwanzig — Die Sonne geht unter. Nur die schneebedeckten Spitzen des Kaukasus, dreißig Kilometer entfernt und doch das ganze Sichtfeld einnehmend, leuchten den Abend ein. Ich befinde mich in Vardisubani, einem kleinen Dorf, zwanzig Kilometer südwestlich von Lagodekhi. Es ist halbwegs warm. Zehn Grad. Gerade stehe ich an der Hauptstraße und warte auf die Marschrutka, die mich nach Hause bringen wird. Wie, Marschrutka? Ja, Marschrutka. Sie ist eine Sache für sich. Es gibt nicht »die Marschrutka«. Jede sieht anders aus, und jede hat einen anderen — mehr oder weniger großen – Schaden. Mal hat sie eine brüchige Windschutzscheibe, keinen Kühler, oder sieht einfach nur so aus, als könnte jeder kommende Kilometer ihr letzter sein. Eine Marschrutka kommt nie zu spät, sie kommt auch nie zu früh — eine Marschrutka kommt immer dann, wenn ihr Fahrer es für richtig hält. Außerhalb von Tbilisi ist sie das verlässlichste und günstigste öffentliche Verkehrsmittel in Georgien. Das mit ihrer Pünktlichkeit ist zwar immer so eine Sache, aber an Abenden wie heute, mit Blick auf den Kaukasus, da wartet man doch gerne. Jede Woche stehe ich hier und warte.
Die Atmosphäre an diesem Wartestand ist von einer rasanten Gemütlichkeit geprägt. Drei herrenlose Kühe traben erhaben auf der Straße vorbei. Auf der anderen Seite warten Taxifahrer plaudernd auf Kundschaft. Die Sonne sinkt und im Sekundentakt brettern Autos in überhöhter Geschwindigkeit vorüber.
Ein Grund mehr, der das Warten in Vardisubani nicht langweilig macht, sind die nicht ausbleibenden Rufe der Dorfjugend. Dorfjugend ist ein dehnbarer Begriff. Bis zum Schluss bleiben meistens die ganz jungen Junx, so um die sechs Jahre alt. Sie begleiten mich vom Jugendzentrum bis zur Marschrutka-Station und prüfen dann wöchentlich, ob mein Georgisch denn schon besser würde. Einer von ihnen, der kleine Gio — er reicht mir etwa bis zum Bauchnabel – hat mir bereits erklärt, er spräche Französisch und habe eine Oma aus Frankreich.
Ein kleiner Einschub beim Namen Gio: Giorgi, wie der Name ganz lautet, ist wohl der verbreitetste männliche Vornahme in Georgien. Falls man mal den Namen seines Gegenübers vergessen hat, kann man es ruhig mit Giorgi probieren. Die Chance, richtig zu liegen, ist groß. Bei den Mädchen gilt gleiches für den Namen Mariam.
Nun, weshalb mich der kleine Gio jede Woche zur Marschrutka begleitet, ist einfach zu erklären. Ich habe angefangen zu arbeiten. Seit nun einem Monat fahre ich jeden Montag nach Vardisubani, um dort meiner Arbeit nachzugehen.
Als ich mich das erste Mal auf den Weg dorthin machte, wusste ich nichts. Ich wusste nicht genau wo das Jugendzentrum lag, ich wusste nicht, wie viele Kinder da sein würden, und ich wusste nicht, was von mir erwartet wurde. Nix. Tatsächlich war ich erstmal überhaupt froh, auf dem Weg zur Arbeit zu sein. Denn von Mitte September bis Ende Oktober gab es neben Supras und allerlei anderen interessanten Dingen, keine Jugendarbeit für mich.
Nun, als ich in Vardisubani ankam, war ich unglücklicherweise nicht der einzige, der nix wusste. Niemand wusste etwas. Anwesend waren fünfzehn Jugendliche und die Koordinatorin des Zentrums. Sie sprach kein Englisch, und nach einigen Minuten war sie verschwunden.
Insgesamt also jede Menge Gründe, direkt wieder zu gehen.
Zwei Monate später bin ich froh, es nicht getan zu haben. Mittlerweile treffen wir uns jede Woche, um gemeinsam zu fotografieren. Eine weitere Schwierigkeit dabei: Die Jugendlichen haben meistens nicht mehr als ihre Handykamera. Manche haben sogar gar keine Kamera.
Es hängt von der Betrachtungsweise ab, ob das nun ein Problem ist oder nicht. Tatsächlich bestätigt sich dabei etwas Entscheidendes: Nicht die Kamera macht das Bild, sondern der Fotograf. Es bedarf keiner großen Optik und einer Spiegelreflexkamera um ein gutes Bild zu schießen. Nicht die Lichtstärke, der große Sensor und das Bokeh (Der unscharfe Hintergrund, der Fotos professionell aussehen lässt), machen ein Foto unbedingt wertvoll. Das versuche ich den Jugendlichen zu vermitteln: Egal wie gut die Technik ist, sie hat immer eine Grenze. Zu sehen, wie die Jugendlichen sich am Fotografieren freuen, und selbst kreativ werden, ist großartig.
Jede Woche fahre ich in zwei weitere Dörfer. Von einem, Heretiskari, möchte ich genauer berichten. Auch dort gab es für mich keinerlei Einführung oder Vorstellung. Ich war einfach da. Um mich herum fünfundzwanzig Kinder und Jugendliche im Alter von sieben bis neunzehn. Dem ersten Anschein nach sprach keiner Englisch. Im Laufe des ersten Treffens stellte sich heraus, dass einer von ihnen doch wenigstens etwas Englisch konnte. Es ist eine faszinierende Sache, Spiele oder Projekte anzuleiten, ohne auf eine gemeinsame Sprache zurückgreifen zu können.
Es ist anstrengend.
Es ist wunderbar.
Es ist wunderbar zu sehen, wie die Jugendlichen sich begeistern, und sei es für ein einfaches Gruppenspiel. In ländlichen Regionen wie dieser hier, gibt es eben weder qualifizierten Englischunterricht noch Jugendarbeit.
Dabei gibt es immer wieder bewegende Momente – Augenblicke für die Ewigkeit: Einmal, als ich mit den Jugendlichen Hängemännchen spielen wollte, war es ein kleines, siebenjähriges Mädchen, dass als erste ein Wort präsentierte. Den Stolz in ihren Augen zu sehen, als ihr Wort erraten wurde, dass sie auf Englisch geschrieben hatte, die Begeisterung der älteren, die ihrem Beispiel folgen wollten und sich um den Stift rissen: wunderbar.
Da sind die Junx, die mit mir Armdrücken wollen und, wenn wir es nicht tun, trotzdem zuhören und teilhaben.
Da ist die neunzehnjährige Lia, die nie lachen will und beim Spiel »Schenk mir ein Lächeln« dann doch rumgekriegt wird — nach zahlreichen Versuchen der Gruppe.
Die Treffen laufen nie so ab, wie ich sie plane. Jedes Mal gibt es eine Überraschung. Mal liegt das an Kommunikationsproblemen, oder mal daran, dass die erwarteten Jugendlichen nicht kommen, dafür aber eine Horde kleiner Kinder (Nichts gegen eine Horde kleiner Kinder). So ist es erforderlich nicht nur einen Plan B, sondern auch einen Plan C und D parat zu haben. Das ist anstrengend, lohnt sich aber. Ob in Deutschland oder im letzten Zipfel Georgiens: Motivierte Jugendliche sind motivierte Jugendliche und wenn sie es mal nicht sind, können sie es noch werden.
Der Tag, an dem ich fast betrunken zur Arbeit kam.
Die ersten Monate waren wie ein Höhenflug. Ohne gemeinsame Sprache, mit und ohne Bier (Wein funktioniert auch) habe ich wunderbare Begegnungen machen dürfen. Und seien sie noch so kurz und flüchtig.
Eines Tages fuhr ich, wie sonst auch, mit der Marschrutka nach Hause, als mich der Fahrer fragte, woher ich denn käme. Als Ausländer fällt man auf. Ich sagte, aus Deutschland. Er fragte, in welcher Stadt ich wohne und als ich — meine Standardantwort parat — gerade erklären wollte, wo Minden läge, rief der Fahrer »vizi, vizi!« und »Porta Westfalica!«.
Das, was dann mit mir passierte, in diesem Moment, als ein unbekannter Georgier, irgendwo in der Pampa, in irgendeinem dreckigen Bus voller Leute, Minden kannte, lässt sich nicht beschreiben. Es war völlig unerwartet, total überraschend und einfach großartig.
Das Gefühl, in etwas Fremdem Heimat zu finden — und sei es nur für einen Augenblick – , ist unbezahlbar. In diesem Moment war ich, mit all meinen Sinnen, Weltbürger.
Dass es Leute gibt, die das nicht wollen, Leute, die das Wort »völkisch« wieder positiv besetzen wollen, und am liebsten eine Mauer um ihre kleine, heile Welt ziehen würden, kam mir in diesem Moment wie das Dämlichste der Welt vor. Naja, tatsächlich ist es ja auch ziemlich dämlich.
Diese Magie der Begegnung erfüllt auch immer wieder die Arbeit mit den Jugendlichen. Gemeinsames, Sprache und Generationen übergreifendes Spielen, macht unglaublich Spaß.
Wenn man, trotz der Kommunikationsschwierigkeiten und all der Unterschiede, bei den ersten Takten von »Riders on the Storm« das gleiche fühlt — dann geht einem das Herz auf.
Eines Nachts spazierte ich mit meinem Gastbruder durch die dunklen Straßen Lagodekhis. Ich weiß nicht mehr, wie es dazu kam, aber wir hörten uns gemeinsam das Lied »Du bist die Ruh« von Franz Schubert an. Nur die Sterne leuchteten. Ein wunderschönes Lied — ein wunderschöner Moment. Als die letzten Töne verklungen waren, begann mein Gastbruder von seinem Ur-Ur-Opa, zu erzählen, der in Deutschland Kriegsgefangener gewesen war. Darauf erzählte ich ihm von meinem Ur-Opa, dem das gleiche Schicksal in Russland widerfahren war. Es war ein bewegendes Gespräch von großer Tiefe und Verbundenheit. Seite an Seite, der Georgier und der Deutsche: Zwei Brüder.
Um diesen Abschnitt nicht ganz so pathetisch abzuschließen, möchte ich von einer letzten Begegnung berichten. Meiner Begegnung mit Imeda. Es war an einem Montag, und ich war wieder unterwegs ins Jugendzentrum von Vardisubani, als mich an der Marschrutkastation ein Mann ansprach und fragte, wer ich sei und woher ich denn käme. Es war zwanzig vor vier, und eigentlich hätte meine Jugendstunde schon vor zehn Minuten anfangen sollen. Also sagte ich dem Mann, ich stünde unter Zeitdruck und müsse los. Jedenfalls habe ich das versucht. Ohne viel Georgisch und im Anbetracht der Tatsache, dass es in Georgien weder Zeitdruck noch Pünktlichkeit gibt, war das nicht ganz so einfach. Der Mann, der sich als Imeda vorstellte, sagte mir, ich solle doch bitte mitkommen. Er wies mir einen Platz auf der Wartebank und verschwand im benachbarten Laden. Was zum Geier wollte dieser Typ? Ich hatte keine Ahnung und hätte mich fast verdrückt, als sich der Mann mit zwei Bierflaschen und einer Tüte Chips zu mir setzte. Anfangs war ich etwas skeptisch, doch als die Bierflasche schon halb geleert war, hatten Imeda und ich bereits allerlei Dinge ausgetauscht. So erfuhr ich, dass er zwei Häuser, und früher in der Schule Deutschunterricht gehabt hatte. Zum Beweis rief er »Bär« und zeigte er auf das Bier. Nachdem ich mit »Sakartvelos Gaumardschos!«, das heißt »Sieg für Georgien!«, antwortete, war mein Status als »Megobari germaneli«, als deutscher Freund, besiegelt. Da ich nun wirklich losmusste — es war kurz nach vier — verabschiedete ich mich und wir verabredeten uns für die nächste Woche — auf einen weiteren Liter Bier.
Zum Glück waren die Jugendlichen noch da, als ich am Jugendzentrum ankam. Wir hatten eine gute Stunde — Thema Bildkomposition. Es gab nur ein Problem: Wie alle Biere, hat auch das georgische, eine unvermeidliche Konsequenz: Man muss mal.
Die Jugendlichen haben ’s mir verziehen.
Ein Weihnachten und kein Weihnachten
Mit fünfzehn war ich enttäuscht. Weihnachten war nicht mehr Weihnachten. Plätzchen, Weihnachtslieder und Glühwein wollten selbst nach dem vierten Advent nicht mehr das auslösen, was sie die Jahre vorher ausgelöst hatten. Der Zauber war verflogen. Weihnachten war nicht mehr als eine traditionsbedingte Ansammlung von unverständlichen Bräuchen.
Ein Jahr später sah ich das ganz anders. Ich sah Weihnachten auf andere Weise. Und so war an diesem Heiligabend der Weihnachtszauber wieder da. Bin ich wieder zum Kind geworden? Nein, die kindliche Naivität, durch die Weihnachten immer mysteriös und zauberhaft gewesen war, war nicht zurückgekehrt. Stattdessen hatte etwas Anderes ihren Platz eingenommen: Das bewusste Erleben einer so irrationalen Sache. Diese Sache mit der Weihnachtsgeschichte.
Ich könnte sagen, dass ich — was Weihnachten anging — erwachsen geworden war.
Ein Bruch wie vor vier Jahren, war auch dieses Weihnachten:
Familie? Keine da.
Tannenbaum? Mickrige neunzig Zentimeter groß.
Weihnachtsstollen? Nicht von Oma.
Leonie, Lotte, Hanna und Katja hatten sich dazu entschieden, über die Feiertage nach Deutschland zu fliegen. Johanna blieb in Kutaissi. So bereiteten Benedikt und ich uns darauf vor, zu zweit Weihnachten in Tbilisi zu feiern.
Früh am Morgen des 24ten machten Benedikt und ich uns auf, einen Tannenbaum und das einzukaufen, was man für Weihnachten eben so braucht. Das alles selbst zu machen, und dann noch in einem Land, in dem an diesem Tag gar nicht Weihnachten gefeiert wird, war ziemlich spannend. In Georgien wird Weihnachten erst am 7. Januar gefeiert. Trotzdem, schon einen Monat vorher, konnte man Weihnachten kaum übersehen. Soviel Weihnachtskitsch im öffentlichen Raum habe ich im Leben noch nicht gesehen. Der Höhepunkt war eine Kolonne aus fünf roten, mit leuchtenden Lichterketten und winkenden Eisbären bestückten, Lastwagen. Aus übersteuernden Lautsprechern trällerte es »Jingle Bells, Jingle Bells.«. Nun, dass Jesus in Wahrheit als zwei Liter Coca-Cola Flasche zur Welt kam, ist mittlerweile auch in Georgien bekannt.
Zurück zu unserem Tannenbaum, der noch gekauft werden musste. Auf einem kleinen Flohmarkt fanden wir mehrere Händlerinnen, die uns ihre Weihnachtsbäume präsentierten. Einen schönen Baum zu finden, war gar nicht so einfach. Denn die Tannen, die nicht aussahen wie ein Busch aus der Savanne, stellten sich als Stock mit angeklebten Zweigen heraus. Und das, obwohl die Nordmanntanne ursprünglich aus Georgien kommt.
Zuhause angekommen hieß es erstmal Dekorieren. Der Topf des Tannenbaums wurde mit Packpapier aus einem Paket verkleidet. Aus Selbigem entstand mithilfe einer Nagelschere und eines Müllsacks die Weihnachtskrippe. Für den Weihnachtsbaum bastelten wir Weihnachtssterne aus Collegeblockpapier — wir hatten kein anderes Papier gefunden. Begleitet wurde unser Treiben von den Klängen des Weihnachtsoratoriums. Als es dann auch noch dunkel wurde, und wir bei Kerzenlicht kochen mussten, weil der Strom in der halben Wohnung ausgefallen war, wurde es schon richtig gemütlich.
Gegen halb acht machten wir uns auf zur Kirche. Tatsächlich gibt es in Tbilisi eine kleine evangelisch-lutherische Gemeinde mit einem deutschen Bischof. Fünf Minuten zu spät — wie es sich für einen wohlassimilierten Deutschen (und Schilling) gehört — kamen wir in der Kirche an. Zur Predigt lässt sich sagen: Nach einem fünfmonatigen Gottesdienst-Entzug gerade so annehmbar.
Als dann die Air von Bach ertönte — gespielt auf Klavier und Querflöte – habe ich an meine Familie gedacht, und ein zwei Tränen verdrückt. Das nennt man wohl Vermissen. Gleichzeitig habe ich mich so grenzenlos glücklich gefühlt. In diesem Moment war ich innerlich mit den Menschen neben mir, genauso wie mit allen, die auch Weihnachten feiern, verbunden. In diesem Moment waren es keine dreitausend Kilometer bis nach Minden.
Da war der Zauber von Weihnachten da.
Die Erkenntnis, die ich mit sechzehn hatte, wurde um eine weitere ergänzt: Weihnachten kann auch unter Freunden, ohne Familie, ohne irgendeine Selbstverständlichkeit und gerade deswegen, in einem fremden Land, ziemlich schön sein.
Die Neujahrs-Supra
Seit ich in Lagodekhi angekommen bin, wurde sie immer wieder erwähnt: Die Neujahrs-Supra. Highlight des Jahres und für die Georgier das wichtigste Fest. Je näher Neujahr rückte, desto gespannter wurde ich. Eine Woche bevor es losging, wurde eifrig vorbereitet. Das heißt, die Frauen standen in der Küche und die Männer saßen auf dem Sofa. Meine Gastoma beklagte sich immer wieder, wie viel Arbeit das denn wäre, wollte aber nichts davon hören, als ich vorschlug, wir Männer könnten doch auch mal helfen.
Bevor die Supra losging, fand im Stadtzentrum ein großes Volksfest statt. Ganz Lagodekhi war dort versammelt. Als Teammitglied hatte ich bei der Vorbereitung geholfen, einige Promo-Videos gedreht und begleitete nun das Event mit der Kamera. Die Eindrücke reichten von Kitsch bis Kriegsgebiet. Von der an das Zentrum angrenzenden Straße stieg Rauch auf. Immer wieder explodierten Böller. Das Wort »Böller« passt nicht so ganz. Eigentlich waren es eher kleine Bomben. Laut detonierend machten sie die Straße zu einem Schlachtfeld. Die Polizei stand direkt daneben und schaute zu. Da sehnt man sich dann doch nach den noch so kleinkarierten deutschen Standards.
Um zwei Uhr morgens ging es nach Hause, zur Supra, dessen Tamada — Tischmeister — ich sein sollte. In Georgien gibt es die Tradition, dass der erste, der das Haus im neuen Jahr betritt, ein Gast sein muss. Dieser sog. »მეკვლე — Mekvle«, eröffnet die Supra, indem er das Haus der Gastgeber segnet und ein Geschenk überreicht. Anschließend übergibt er das Wort an den Tamada.
So fing ich mit den ersten Trinksprüchen an. Diese folgen einem festgelegten Schema: Sie widmen sich den Königen, dann dem Vaterland und den Vorfahren. Danach ist es der Kreativität des Tamadas überlassen, geeigneten Inhalt zu finden. Nachdem das Wesen der menschlichen Existenz ausreichend erläutert und begossen war — jedes Mal mit einem Glas Wein — gingen die Familiensöhne, einschließlich mir, zur nächsten Supra.
Um den weiteren Verlauf zusammenzufassen, lässt sich sagen: Ein Wunder, dass wir am nächsten Morgen noch nach Hause gefunden haben.
Wo wir trinken, wo wir lieben
Als nun mittlerweile dritter Sohn habe ich, dank meiner Gastfamilie, rund um die Uhr Teil am georgischen Leben. Und das ist geprägt von planmäßiger Planlosigkeit. Trotzdem lassen sich ein paar Allgemeinheiten festmachen. Egal ob am Wochenende oder unter der Woche, die Abende sind lang. Vor Mitternacht ist keiner im Bett — auch nicht mein zehnjähriger Gastbruder. Um zwölf Uhr nachts geht es meist geschäftiger zu als um zwölf Uhr mittags. Hin und wieder passiert es, dass meine Gastoma um zwei Uhr morgens entscheidet, staubzusaugen. In diesem Fall: Danke an die Ingenieure des Staubsaugers, denn der ist wie ich, auch deutscher.
Entsprechend spät steht man auch am nächsten Morgen auf. Wenn ich mal entscheide, früh aufzustehen — so um neun Uhr herum — dann begegne ich meist niemandem im Haus.
Am Georgs-Tag, dem 23. November, rief mich mein Gastbruder um halb zwei nachmittags zum Frühstück. Die ersten Worte, die mein Gastvater an mich richtete waren: »Willst du Kognak?«
Damit sind wir auch schon wieder beim Thema Alkohol. In den letzten fünf Monaten habe ich sicherlich mehr Schnaps getrunken als in meinem ganzen Leben zuvor. Ausschließlich Selbstgebrannten. Nirgendwo wird die Ambivalenz von Alkoholkonsum deutlicher als hier. Ein Mann, der vom Balkon herunter auf die Straße kotzt oder zwei Betrunkene, die im Dunkeln auf einer Schnellstraße herumtorkeln, sind keine Einzelfälle. Gleichzeitig ist Alkohol aber eben auch eines der besten Werkzeuge zur Völkerverständigung. Und solange er als solches fungiert hat er durchaus seine Berechtigung. Der Geschmack ist vielleicht auch eine Legitimation, auf die in Kachetien allerdings nicht so viel Wert gelegt wird:
Nachdem ich meinem Gastvater geholfen hatte, den eigenen Hauswein zu keltern, und wir ihn am selben Abend noch probierten, sagte ich natürlich, er schmecke großartig. Das entsprach nicht ganz der Wahrheit, denn ein Wein, der nicht mal einen Tag gereift ist, kann auch nur entsprechend schmecken. Wein schmecke erst nach dem dritten Glas — erklärte mir daraufhin (nach dem fünften Glas) mein Gastvater. Verzerrte Gesichter nach einem Glas Wein sind auch für Georgier aller Generationen keine Seltenheit. Kommen Gäste, gibt es Kognak — und sei es beim Frühstück. Kommen keine, gibt es manchmal trotzdem welchen. Es gibt keinerlei Regel, wann getrunken wird und wann nicht. Genauso gibt es überhaupt keinen Rhythmus, wann gegessen wird. Meistens natürlich abends, aber wie bereits erwähnt ist abends eine schwammige Definition.
Wenn ich konnte, habe ich das Frühstück in Deutschland verschlafen. Jetzt erst wird mir bewusst, was ich da eigentlich verpasst habe. Frühstück gibt es in Georgien nicht. Es gibt nämlich keinerlei Unterschied zwischen den Mahlzeiten. Wenn meine Gastoma mich ermuntert, Kuchen mit Kohlrouladen zu kombinieren, lehne ich meistens dankend ab. Die fehlende Strukturierung wirkt sich allerdings nicht auf die Qualität der georgischen Küche aus. Sie ist großartig und verdient ein andermal einen eigenen Absatz.
Rotwein wird überhaupt nicht getrunken, weil man davon so schnell Kopfschmerzen bekommt. Bei den Mengen ist das auch nicht verwunderlich.
Deutsch i bims.
Was heißt es eigentlich, »Deutscher« zu sein? Wie sehr beeinflusst die Nationalität die eigene Identität?
Bevor ich ausgereist bin, habe ich mich nie als Deutscher gefühlt, auch nicht als Franzose — eher so als jemand, der das Glück, hat in einem Land zu leben, wo Wohlstand und Frieden herrschen. Erst die Begegnung mit einer so anderen Kultur und auch dem darin verwurzelten Bilde eines Deutschen, hat mich mit meiner eigenen kulturellen Identität konfrontiert. Das Verlassen aller bekannten Selbstverständlichkeiten erlaubt es erst richtig, diese als das zu sehen was sie sind: Kulturspezifisch und relativ. Das richtige Erleben anderer Sitten und Bräuche und der Versuch, sie zu verstehen, führt gleichzeitig dazu, diesen Versuch auf die eigenen Traditionen zu übertragen. Ich blicke auf meine Heimat mit anderen Augen. Ich sehe Dinge, die ich vorher nicht sah. Ich sehe mich selbst neu.
Ist der Mensch also nichts weiter, als ein Kind seiner angestammten Kultur? Nun, seit fast einem halben Jahr bin ich hier, und es hat gezeigt, dass das nicht stimmt: Georgien ist meine zweite Heimat geworden.
Euer Johann
PS: Unter diesem Link findet Ihr einen meiner neuen Filme. Es geht um das »Heretoba«-Festival in Lagodekhi. Schaut vorbei 😉
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